
Am Eingang zum Val Schons, zu Deutsch Schams genannt, quetscht sich der Rhein durch die Viamalaschlucht. In diesem Nadelöhr lohnt sich ein Stopp, genauso wie in Zillis, das für die romanische Bilderdecke der Kirche St. Martin weltberühmt ist. In Andeer hingegen bleiben wir etwas länger, denn von hier aus besuchen wir die Naturschönheiten und Menschen des Averstals.
Inhalt
Kurzer Blick zurück
Andeer und das Hotel Post sind unser Basislager. Das 1894 erbaute Hotel ist erst kürzlich frisch renoviert wieder eröffnet worden und liegt ganz zentral am Hauptplatz, wo auch die Postautos Halt machen. Wir spazieren gleich nach Ankunft ein wenig durchs 926-Seelen-Dorf und entdecken die wunderschönen alten Häuser mit ihren Brunnen. Die einstige Säumerstation an der Nord-Südachse ist ursprünglich durch den Bergbau geprägt, doch der Tourismus und das Mineralbad haben ebenfalls eine lange Tradition.



Weil das Avers lange Zeit sehr abgelegen war und die Kantonsstrasse erst ab 1895 den schmalen Säumerpfad ersetzte, ist hier noch viel Urspünglichkeit zu erleben. Als 1962 der Bau der Staumauer im Val di Lei und der Kraftwerkanlage fertig wurde, kam das Bergdorf Juf, zu seiner Strassenverbindung gen Norden nach Andeer. Vorher orientierte sich die Bevölkerung des ganzen Averstals eher Richtung Bergell und Italien.

Der innovative Käser von Andeer
Schon früher, also anfangs 19. Jahrhundert, zogen Auswärtige wegen des Handwerkermangels im Tal nach Andeer. Sie kamen aus Italien, Österreich und Süddeutschland. Und irgendwie ist das heute nicht viel anders, geht es mir durch den Kopf, als wir Käser Martin Bienerth in der Sennerei Andeer treffen. Er ist im Allgäu geboren, in Berlin und Schleswig-Holstein aufgewachsen, um später während vielen Jahren als Bergkäser zu arbeiten – auch auf Bündner Alpen. Seit 2001 lebt er nun bereits mit Ehefrau und Käsermeisterin Maria Meyer in Andeer.

Die beiden produzieren in der Dorfkäserei der Bauerngenossenschaft um die dreissig verschiedene Bio-Käsearten, welche sie zusammen mit Bio-Kartoffelbauer Marcel Heinrich (s. Buchtipp weiter unten) seit elf Jahren selber vermarkten. Denn die – in gutem Sinne – etwas eigensinnigen Bündner wollten nicht länger von einem grossen Milchverarbeiter und einem unsinnigen System abhängig sein. Und so baute der umtriebige, ideenreiche Bienerth, den hier alle Floh nennen, die Käserei Schritt für Schritt aus.

Er schwärmt von der feinen Bergmilch, die der Blüten und Samen wegen herrlich aromatisch und intensiv schmecke. Das sei «weiche» Milch, erklärt er – im Gegensatz zur harten Unterländermilch. Alpbutter bleibt deshalb auch immer weich und streichfähig.
Einer von Flohs Kunden, Käsebotschafter Urs Reichen von «Chäs & Co.», bringt es auf den Punkt: «… die Produkte müssen den unverwechselbaren Charakter eines Produzenten, eines Dorfes oder eines Tals haben. … Maria und Floh haben alles gegeben, unverwechselbare Käse herzustellen.» Inzwischen kaufen so manche Wirte und berühmte Chefköche in der Käserei Andeer ein, um mit den authentisch lokalen Käsen eigene Spezialitäten zusammenzustellen.

Bergkümmel aus dem Avers
Seit zwei Jahren produziert der charismatischste Bio-Käser Graubündens einen Käse, den er mit wildem Kümmel aus dem Averstal würzt. Diesen bezieht er von Christian Wieland von dem Floh, selbst ein sehr einfallsreicher Mensch, sagt: «Der ist so innovativ und positiv – unglaublich! – da können wir uns alle eine Scheibe abschneiden!»
Als wir Christian Wieland besuchen verstehen wir die Worte des Käsers vollends: Der Kümmel-Lieferant sitzt im Rollstuhl, weil er im August 2001 einen Unfall in abgelegenem Gelände hatte und seither querschnittgelähmt ist. Der Weg zurück ins Leben war nicht einfach, aber Christian hat es auf seine Weise geschafft. Er arbeitet Teilzeit im Volg in Andeer und pflegt nebenbei sein Kümmelhobby. So vergnügt und mit verschmitztem Lächeln wie er uns empfängt, ist rasch klar: Er hat sein Schicksal akzeptiert und das Beste daraus gemacht.

Natürlich wollen wir wissen, wie und wo er denn den Kümmel erntet. Christian zückt seinen Teleskop-Walkingstock, den er für seine Zwecke entfremdet hat: auf der Spitze sitzt ein Metallschneidehaken. Damit schneidet der Sammler vom Rollstuhl am Wegesrand aus die Kümmelpflanzen mit einem Ruck und zieht die Pflanzengarbe zu sich hin. «Den Bergkümmel gibt es hier fast überall, man muss nur genau hinsehen», verrät er.
In seinem Kümmellager hängt er die Büschel in Kopfkissenbezüge gehüllt auf und lässt alles schön trocknen. Wenn die Zeit reif ist, schüttelt und klopft er die Pflanzen, damit die Samen in den Kissenbezug fallen – et voilà: der Kümmel ist geerntet. Christian hält mir ein Glas voller Kümmelsamen unter die Nase und ich bin überrascht, wie viel frischer und würziger sie duften, als das, was ich aus dem Gewürzregal vom Grossverteiler her kenne.
Kein Wunder, schmeckt der Kümmelkäse vom Käser Bienert so fein! Aus dem Kümmel stellt Christian übrigens auch Schnaps her, aber nur für den Eigengebrauch – oder gute Freunde. Wir dürfen natürlich probieren und stellen fest: Liebe, Handarbeit und frische Zutaten sorgen halt immer für das gewisse Extra!


Der exotischste Wirt im Avers
Genauso sieht das auch Simon Bühler, Wirt in der Walserstuba in Cröt-Avers, gute 20 Autominuten von Andeer entfernt und auf halbem Weg zum Murmelilehrpfad. Doch davon später. Simon hat eine glamouröse, exklusive Vergangenheit, von der er nur erzählt, wenn er darauf angesprochen wird: Er war als Küchenchef und TV-Koch in halb Südamerika unterwegs und bekannt, hat an Universitäten Vorträge über Gastronomie gehalten, in Kolumbien ein Friedensprojekt lanciert, vergessene und in Kriegszonen zurückgelassene Rezepte wieder zu neuen Gaumenfreuden erweckt und vieles mehr. Ein bunter Hund oder noch besser: ein ehemaliger Paradiesvogel, der sich da zusammen mit seiner Frau Steffi im 170-Menschen-Tal niedergelassen hat.



Wer jetzt denkt, da werde nur auf teuerstem Niveau gekocht, irrt gewaltig. Simon stellt sofort klar: «Hier sind alle willkommen, von der Geissenhirtin bis zum Hotelmillionär!» Und mittags kommen auch die Arbeiter von der nahen Strassenbaustelle vorbei. Wo gibt es schon ein spezielles Arbeitermenü für 20 Franken samt Getränk und Kaffee? In der Küche herrscht Bodenständigkeit. Es werden lokale Produkte verwendet, manchmal auch Ziegen und Hühner aus dem Tal. Nose-to-tail findet Simon gut, aber übertreiben sollte man dennoch nicht. Ab und zu bereitet er südamerikanische Spezialitäten zu und bringt die grosse, weite Welt ins kleine Averstal. Und in der Bodega verkauft er seine Weine auch über die Gasse – zu sehr fairen Preisen notabene. Ach ja, übernachten kann man hier auch!

Wir werden Simons Kochkünste später ausprobieren, denn jetzt wollen wir erst einmal Juf einen Besuch abstatten. Es ist die höchste, ganzjährig bewohnte Siedlung der Schweiz und eigentlich auch Europas, aber da scheiden sich die Geister… Ich finde, Juf ist in diesem Wettbewerb um Superlative eindeutig der Sieger. Das Walserdorf liegt auf 2126 m ü. M., ist Ausgangsort für Skitourengänger und Wanderer und hat etwa 30 Einwohnerinnen und Einwohner, die hauptsächlich von der Landwirtschaft und vom Tourismus leben. Wir machen ein paar Fotos, und weil die Restaurantterrasse schon voll ist, fahren wir zurück, um bei Elsi Dettli vorbeizuschauen. Die ehemalige Tierarztassistentin erzählt von ihrer zweiten Arbeit, der Tierfotografie.

Zu Besuch bei der Tierfotografin Elsi Dettli
Besonders angetan haben es Elsi die Murmeltiere – der Lehrpfad ist ja auch ganz in der Nähe. Inzwischen kennt sie die Tiere wohl fast persönlich und sie gibt mit rauchiger Stimme ihr grosses Wissen gerne weiter.

Wusstest Du, dass Murmeli – in Graubünden heissen sie Mungga – nie in die Wiese machen? Sie haben im Sommer ein unterirdisches WC und im Winter findet gar keine Darmentleerung statt. Es sei auch wichtig, erklärt Elsi, dass die Mungga ganz spezielle Pflanzen fressen, damit sie das richtige Fett ansetzen. Nämlich solches, das selbst bei niedriger Temperatur im Winter verbraucht werden kann. Murmeli mit «Menschenzeugs» zu füttern, ist also gar keine gute Idee; denn daraus entsteht logischerweise nicht das für sie überlebenswichtige «weiche» Fett.


Die Tiere leben im Familienverband, wobei Inzucht seit ewigen Zeiten betrieben wird – und nicht schadet. Je grösser die Familie, desto grösser die Überlebenschancen, das zählt. Aber das führt auch zu heftigen Hierarchie- und Revierkämpfen unter den Männchen. Wird mit buschigem Schwanz gerungen, können die Kämpfe richtig schlimm ausarten; kämpfen Gleichaltrige mit schlankem Schwanz untereinander, sind die Kämpfe harmlos.

Wer noch viel mehr über die Mungga im Averstal erfahren möchte, sollte einen der Vorträge buchen, die Elsi für Viamala Tourismus hält (s. Infos weiter unten). Da haben alle ihren Spass, allen voran aber die Murmeltierkennerin selber, denn «diese Menschen sind sehr interessiert, das freut mich».
Wandern auf dem Murmeltierlehrpfad
Mit so viel neuem Wissen ausgestattet, machen wir uns auf zum Murmeltierlehrpfad. Von Juli bis Ende September ist die beste Zeit, um die Tiere zu beobachten. Über Mittag kann man als Zweibeiner getrost Siesta halten, denn die Murmeli machen das auch und sind nicht zu sehen. Der Weg bis zur Alp Bergalga ist etwa drei Kilometer lang. Inklusive Rückweg und Beobachtungspausen solltest Du etwa drei Stunden Zeit einrechnen.

Selbst wenn hier eine Sichtung fast garantiert ist, müssen Fotografen ein gutes Teleobjektiv dabei haben, um den Tieren so richtig auf den Pelz rücken zu können. Und wenn’s doch nicht klappt, kauf Dir einfach eine Postkarte – das Foto könnte von Elsi Dettli stammen. ;-)

Aber Freude daran haben wir trotzdem!
Infos zu Val Schons und Avers
LAGE
Das Val Schons liegt am Hinterrhein und das Avers ist ein Nebental des Hinterrheins in der Region Viamala, Graubünden.
ANREISE
Mit dem Auto auf der A13/E43: von Norden her Ausfahrt Zillis/Schams, von Süden her Ausfahrt Andeer. Mit ÖV: ab Chur bzw. Thusis oder Bellinzona mit dem Postauto nach Andeer.
HOTEL
Hotel Post Andeer
Veia Granda 46
CH-7440 Andeer
www.hotelpostandeer.ch

RESTAURANTS
Gasthaus Walserstuba
Cröt 212
CH-7446 Cröt-Avers
walserstuba-avers.ch
Währschaftes aus der Region, zwischendurch Spezialitäten der Latino-Küche – wer mag, bekommt als Würze die Geschichte des Chefs dazu serviert.
Hotel Post Andeer
Gourmetrestaurant und Beiz
Adresse s. oben
Wir haben hier vorzüglich getafelt und guten Service genossen. Auch für Nicht-Hotelgäste sehr empfehlenswert.
SEHENSWERT
Sennerei Andeer
Stizun da Latg
CH-7440 Andeer
www.sennerei-andeer.ch
Murmeltierlehrpfad
An elf Stationen erfahren Murmeli-Fans viel Wissenswertes. Start- und Endpunkt ist beim Parkplatz Loretschhus. Auf Google-Maps einfach Murmeltierlehrpfad Avers eingeben, und schon findet man den Startpunkt.
www.murmeltier.ch
Viamala-Schlucht
Besucherzentrum
Mit dem Auto erreichbar von Norden A13/E43 Richtung San Bernardino, Ausfahrt Nr. 23 «Viamala P(arkplatz)»; von Süden A13/E43 Richtung Thusis, Ausfahrt Nr. 25 «Zillis Viamala». Mit dem ÖV bis Haltestelle Zillis, Viamala-Schlucht
www.viamala.ch
Rofflaschlucht
Rofflaschlucht 141
CH-7440 Andeer
Von November bis Ende März ist das Hotel/Restaurant samt Schluchteingang jeweils geschlossen.
www.rofflaschlucht.ch
Mineralbad Andeer
Veia Granda 1J
CH-7440 Andeer
Am besten schaut man auf der Homepage nach, wie gross die Auslastung gerade ist. Wenn es zu 100 Prozent voll ist, macht’s eher weniger Spass…
mineralbad-andeer.ch
BUCHTIPP
«Alpengold» von Martin Bienerth und Marcel Heinrich
FONA Verlag AG, ISBN 978-03781-092-7
Wenn sich ein Bio-Käser und ein Bio-Bergkartoffelbauer zusammentun und ihre Alpengold-Geschichte erzählen, dann wird ein spannender Einblick ins Bio-Bergleben daraus, mit Rezepten gewürzt und schön bebildert. Einfach alles über charaktervolle Bergkäse und seltene Bergkartoffelsorten!

DESTINATIONSINFOS
Viamala Tourismus
www.viamala.ch
In allen Talschaften werden Infobüros betrieben. Die Adressen und Öffnungszeiten sind auf der Homepage vermerkt.
© Text: Inge Jucker; Fotos: Heinz Jucker | TravelExperience.ch | 2022
Offenlegung: Im Rahmen einer Reportage für die GlücksPost waren wir zu diesem Aufenthalt eingeladen. Danke, Viamala Tourismus und Graubünden Ferien
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