Ein Lesetipp der besonderen Art: Das Buch handelt vom Unglück von Halifax, als 1998 eine MD-11 der Swissair nachts ins Meer stürzte. Die detaillierten Schilderungen des Autors Urs von Schroeder sind packend – aber ohne reisserisch oder voyeuristisch zu sein.
Im Strudel einer Katastrophe von Urs von Schroeder
Lesetipp: «Im Strudel einer Katastrophe. Das Unglück von Halifax und seine Folgen» von Urs von Schroeder.

Als ich «Im Strudel einer Katastrophe» auspackte – Urs von Schroeder hat es mir ohne Vorwarnung zugeschickt –, dachte ich erst einmal: Nein, das will ich nicht lesen. Erst recht nicht mitten im Corona-Lockdown steckend. Aber dann hat mich doch die Neugierde gepackt. Ich meine, wie will man «vernünftig» über einen Flugzeugabsturz schreiben, dem 229 Menschen zum Opfer gefallen sind?! Ich kenne Urs als Reise- und Aviatik-Journalist seit vielen Jahren, und mir ist eigentlich schon klar: Der kann das!

Und wirklich, ich konnte das Buch kaum mehr beiseitelegen. In kurzen Sequenzen aus den Leben der an der Katastrophe irgendwie beteiligten Menschen – oder solchen, die den Flieger verpasst haben – steuert der Autor auf den Absturz der MD-11 hin. Verschiedene Facetten und Blickwinkel nicht ausser Acht lassend. Dann das Bekanntwerden der Katastrophe, die ersten Suchtrupps und Helfer, welche die Hoffnung auch nach Tagen noch nicht aufgeben, vielleicht doch noch einen Überlebenden zu finden.

Der Parkplatz [von Peggy’s Cove], auf dem normalerweise die zum Leuchtturm pilgernden Tagestouristen ihre Wagen abstellen, hatte sich in einen Kommandoposten und einen improvisierten Landeplatz verwandelt, an dem von nun an während Wochen die Helikopter zu Boden gingen und wieder heulend aufstiegen.

Aus «Im Strudel einer Katastrophe» von Urs von Schroeder

Der irreale Ausnahmezustand von Peggy’s Cove, das Bergen von Trümmern, Gepäck und Menschen, durch die Wucht des Aufpralls unkenntlich gemacht. Und schliesslich die emotionalen Momente, als die Angehörigen informiert und betreut werden müssen… Man fühlt sich beim Lesen irgendwie mittendrin.

Im Dezember 1999 holte ein Saugbagger die letzten Kleinteile vom Meeresboden herauf. 126,5 Tonnen Trümmer – das entsprach 98 Prozent der Flugzeugmasse – hatten den Fluten entrissen werden können.

Aus «Im Strudel einer Katastrophe» von Urs von Schroeder

Physisch ist vom Flugzeug mit dem Namen des Kantons Waadt dennoch kaum mehr etwas übrig, vermutlich alles rezykliert. Hingegen lassen sich die schmerzlichen Erinnerungen aller Beteiligten nicht auslöschen. Und schliesslich bleibt die Frage, wie ein erst siebenjähriges, damals hochmodernes Flugzeug, von zwei sehr erfahrenen Piloten geflogen, abstürzen konnte, eigentlich unbeantwortet. Denn im Abschlussbericht steht, dass wahrscheinlich (!!!) ein Kurzschluss die Katastrophe ausgelöst hatte.

Das Aufarbeiten eines solchen Unglücks ist schwierig, aber Urs hat es geschafft, immer den richtigen Ton zu treffen. Er hat sehr einfühlsam und taktvoll geschrieben, ohne eine Minute langweilig zu sein. Auch leise Kritik ist am Schluss zu erkennen, wenn er schreibt:

Bis in die achtziger Jahre hatten die Ingenieure einen richtungsweisenden Einfluss im Management [der Swissair] gehabt, wurden dann aber zunehmend von den Marketing- und Finanzleuten zurückgedrängt.

Aus «Im Strudel einer Katastrophe» von Urs von Schroeder

Wow! Ich hätte nie gedacht, dass mich dieses Buch über die grösste Katastrophe, die der Swissair je widerfahren ist, so packen würde. Deshalb muss ich es unbedingt weiterempfehlen.

Urs von Schroeder
Urs von Schroeder, Reise- und Aviatik-Journalist, Buchautor und damaliger Mediensprecher bei Swissair, hat ein taktvolles wie auch informatives Buch über die Katastrophe bei Halifax geschrieben. Foto: zV

Natürlich wollte ich von Urs, der zur Zeit des Flugzeugabsturzes Mediensprecher der Swissair war, wissen, wie lange er denn recherchiert hat: «Das ist ein Buch mit einer sehr schweren Schwangerschaft und langen Reifezeit», habe ich zur Antwort bekommen. Und ich lasse ihn hier gleich weiter zu Wort kommen:

«Begonnen habe ich rasant im Jahre 1998 während der Ereignisse nach dem Absturz und bewegte mich auf allen Schauplätzen, in Kanada natürlich mehrmals. Einen frühen Dämpfer bekam ich in den USA, als mich US-Anwälte daran zu hindern begannen, mit amerikanischen Zeugen und Angehörigen zu sprechen. Aus der kurzen Pause wurde eine längere.

Dann kamen noch vier unvorhergesehene Buchprojekte dazwischen. Vor einigen Jahren war für mich die Zeit dann aber reif und der Abstand gross genug, um den Faden wieder aufzunehmen und das Werk zu vollenden. Insgesamt machte ich viele hundert Interviews und führte zahllose inoffizielle Gespräche. Das recherchierte Material umfasste nicht einige Notizbüchlein, sondern volle zwölf Bundesordner! Natürlich hätte es noch zahllose weitere Einzelstorys gegeben, doch letztlich muss man immer eine Auswahl treffen, um nicht zu überborden.

Ein Grossinspirator zu diesem Buch war übrigens Thornton Wilder mit seiner «Die Brücke von San Luiz Rey», der sich mit der Schicksalshaftigkeit der Menschen beschäftigte, die Opfer des Einsturzes einer jahrhundertealten Brücke wurden. Als ich mit meinem Buch begann, dachte ich, dass dieses vielleicht zu meinem reifsten werden könnte. Ob das gelungen ist, müssen die Leserinnen und Leser entscheiden.»

Meine Meinung
Von allen Büchern von Urs von Schroeder – im Speziellen erwähnen möchte ich sein humorvolles Buch «Tango auf Packeis» – finde ich sein aktuelles Werk wirklich sehr, sehr beeindruckend. Ja, man kann es durchaus eine reife Leistung nennen! Aber nur die Zukunft wird weisen, ob er nicht ein noch reiferes Buch schreibt…

Kurz gefasst: Für mich liest sich «Im Strudel einer Katastrophe» so spannend wie ein Krimi, so mitnehmend wie ein Roman und so informativ wie eine Dokumentation.

BUCHINFOS

Titel: Im Strudel einer Katastrophe. Das Unglück von Halifax und seine Folgen.
Autor: Urs von Schroeder
Verlag: elf und zehn
ISBN 978-3-905769-58-6