Im Nord-Pas-de-Calais, der nördlichsten Region Frankreichs, setzen sich 2000-jährige Geschichte, Kultur, Kunst, Architektur und Sport spannend in Szene.
Nord-pas-de-Calais, Ch'ti
Eingang der Ch’ti Boutique in Bénifontaine.

Wenn Ausverkauf ist sollte man eigentlich nicht in Lille unterwegs sein. Ja wirklich! Den nehmen die Leute hier nämlich sehr ernst. Wer sich in der Zeit von Ende Juni bis Ende Juli in Lille aufhält, wird sich wundern, wie viele Einkaufstüten über die Place du Général de Gaulle spazieren… So wie die Einheimischen kann man sich auf den Rand des Brunnens mitten auf dem Platz setzen, sich von der Shopping- oder in unserem Falle von der Stadttour ein wenig erholen und dem Treiben zusehen.

Lille per Velo

Die viertgrösste Stadt Frankreichs und Hauptstadt der Region Nord-Pas-de-Calais lässt sich gut mit dem Velo erkunden. Spannend und unterhaltsam ist die geführte Tour von Le Grand Huit – und vor allem fällt man mit den witzigen Hollandrädern garantiert auf. Zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt zählen mit Sicherheit das Palais des Beaux Arts, eines der bedeutendsten Museen Frankreichs, der Rathausturm, der eine tolle Aussicht über die ganze Stadt bietet, oder die Grand’place (Place du Général de Gaulle) an sich mit ihrer eindrucksvollen Architektur.

Nord-pas-de-Calais, Lille
Lille lässt sich sehr gut per Velo erobern.

Was schon zu Beginn der Reise klar wird: Im Film «Willkommen bei den Sch’tis» wird ziemlich übertrieben, denn in der Region herrscht nicht stets trübes Wetter und die Menschen sind überhaupt nicht beschränkt. Was hingegen den Dialekt anbelangt: Ja, er ist schwer verständlich. Eigentlich versteht man kein Wort, aber das spielt keine Rolle, denn nur die älteren Einheimischen sprechen noch Sch’ti. Auf dem Weg nach Dünkirchen (Dunkerque) kommen wir an der Ortschaft Bergues vorbei, wo «Les Ch’tis» gedreht wurde. Der Fehler an der Geschichte: In Bergues wird traditionellerweise gar kein Sch’ti gesprochen…

Nord-pas-de-Calais, Lille
Der beliebte Brunnen auf der Grand’Place in Lille.

Dunkerque

Um sich in Dunkerque Übersicht zu verschaffen, lohnt es sich, den Turm Beffroi de Saint-Eloi zu besuchen. Mit dem Lift und anschliessenden 65 Treppenstufen erreicht man die Plattform, von der aus man auf den Strand, den Hafen und die Stadt mit der St. Eligiuskirche und der Liebfrauenkappelle schauen kann.

Nord-pas-de-Calais, Arras, Grand'Place
Dunkerque (Dünkirchen) vom Hafenmuseum aus.

Nicht weit vom Turm entfernt befindet sich das Hafenmuseum. Spannend ist der Besuch des Dreimasters La Duchesse Anne, der 1901 als deutsches Schulschiff unter dem Namen «Grossherzogin Elisabeth» vom Stapel lief. 1946 ging es in den Besitz Frankreichs über, bekam den heutigen Namen und ist in Frankreich der letzte museale Vertreter der Dreimaster.

Malo-les-Bains

Östlich von Dunkerque, in Malo-les-Bains, kommen Architekturliebhaber auf ihre Kosten. Auf einer geführten Tour oder mit Hilfe der Broschüre «A la découverte des Villas Balnéaires» (gibt’s im Tourismusbüro von Dünkirchen) lassen sich die wunderschönen Häuser bewundern, die von gefeierten Architekten wie Garnier, Brill und Viollet le Duc zwischen 1890 und 1920 erbaut wurden. Schriftsteller wie Victor Hugo, Jacques Duquesne und Louis Aragon wohnten hier.

Nord-pas-de-Calais, Malo Plage, Architektur
Abwechslungsreiche Architektur in Malo Plage.

Man kann sich gar nicht vorstellen, wie das früher ausgesehen hat. Ursprünglich waren es um die 2700 Häuser – neugotische Villen, Schweizer Chalets, korinthische Paläste, chinesische Pagoden – in unterschiedlichsten Architekturstilen, von art nouveau über art déco bis flämischer Neorenaissance und Anglonormannisch… Viele Häuser sind wegrenoviert oder abgerissen worden. In der Broschüre sind immerhin 14 Häuser beschrieben und in einem Ortsplan eingetragen. Ich hätte hier stundenlang fotografieren können…

Strandsegeln

Doch im Programm steht noch der Besuch bei Eric Houvenaghel, dem mehrmaligen französischen Meister im Strandsegeln. Auf dem Weg von seiner Segelschule «Mer et Rencontres» zum langen und dank Ebbe breiten Strand schwärmt Eric vom Segeln auf dem Sand. Da ich eine lädierte Schulter habe, bin ich nur als Zuschauerin am Strand, wo meine Reisegefährten ihre mitgeschleppten dreirädrigen Gefährte erst einmal fachgerecht mit einem Segel bestücken.

Nord-pas-de-Calais, Dunkerque, Dünkirchen, Strandsegeln
Suchtfaktor 10: Strandsegeln in Dunkerque.

Mit Erics Hinweis «immer links überholen!» geht es los. Ich bin schon etwas neidisch, denn ich kenne Strandsegeln nur im Schweizer Kleinformat, dem Landsegeln. Wie die anderen über den Strand düsen… das ist natürlich kein Vergleich. Super! Zwei Stunden dauert das Vergnügen (für die anderen) und die Gesichter glühen vor Freude.

Arras

Unsere nächste Station heisst Arras, die 2014 – in Erinnerung an die Kampfhandlungen des 1. Weltkrieges – besondere Aufmerksamkeit geniesst. Bei Kriegsende bestand die Stadt nur noch aus Ruinen. Der Belfried, das Rathaus und die Fassaden vieler Häuser konnten nicht mehr restauriert werden, aber wie wurden originalgetreu wieder aufgebaut. Und so hat die Stadt einige sehenswerte kulturhistorische Gebäude, die es sich zu erkunden lohnt.

Nord-Pas-de-Calais: Zu Besuch bei den Sch’tis 1
155 Giebelhäuser am Stück rahmen die Grand’Place von Arras und die umliegenden Strassen.

Neben dem Musée des Beaux-Arts, wo neben der ständigen auch immer wieder interessante Sonderausstellungen organisiert werden, hat mich die Grand’Place sehr beeindruckt. Da reihen sich 155 balkonlose Häuser im flämischen Barockstil ohne Unterbrechung aneinander. Obwohl sie nach einem grossen Gesamtplan erbaut wurden, weisen die einzelnen Häuser dennoch Unterschiede auf. Die Muschel und das runde Fenster scheinen jedoch ein Muss gewesen zu sein. Sehenswert ist auch das Rathaus mit seinem Turm (es führt ebenfalls ein Lift hinauf).

Louvre Lens – eine Galerie der Zeit

Zu guter Letzt besuchen wir die «Filiale» des Louvre in Paris, das Museum Louvre-Lens. Bereits das Äussere, eine Glas-/Aluminiumkonstruktion, macht grossen Eindruck. Im einen Gebäudeflügel werden Sammlungen aus dem Louvre in Paris, im anderen Sonderausstellungen gezeigt.

In einem weiteren Gebäude ist die Galerie der Zeit untergebracht, die mich am meisten fasziniert hat. Hier wandert man durch die Weltgeschichte der Kunst und hat die Möglichkeit, die gegenseitigen Einflüsse und Entwicklungen direkt zu sehen. So sieht man auf einen Blick, dass zur Zeit, als in Mesopotamien die erste Bilderschrift entstand, Ägypten bereits Skulpturen kannte. Allein für diese riesige Halle kann man gut eineinhalb bis zwei Stunden einplanen.

Louvre Lens
Gut besuchter Louvre Lens.

Auf dem Weg zurück nach Lille machen wir noch in einer Ch’ti-Brauerei Halt. In dritter Generation werden hier fünf Millionen Liter Bier pro Jahr gebraut. Das klingt nach viel, macht aber nur 0,5% der gesamten französischen Bierproduktion aus. Bertrand Castelain stellt vier Sorgen her, Maltresse Tripe, Ch’ti, Derby und Jade.

So richtig begeistern konnte ich mich nicht für das Bier (ich mag ja lieber Wein), doch immerhin spricht Bertrand den Dialekt, der dank des Films «Bienvenue chez les Ch’tis» weltberühmt wurde. In diesem Sinne würde ich jetzt einfach mal frei übersetzen: Willkommen im nördlichsten Zipfel Frankreichs, wo Ferien bestimmt nicht langweilig sind.

Infos zum Nord-Pas-de-Calais

ANREISE
In Zürich habe ich mich in den TGV Lyria nach Paris gesetzt (4:10 Std.). Dort heisst es, vom Gare de Lyon in den Gare Paris-Nord wechseln (Taxi 17 Euro), von wo es nach Lille weiter geht (1:23 Std.).

VOR ORT
Am einfachsten mietet man sich ein Auto.

BESTE REISEZEIT
Mai bis Oktober für Lille, Lens und Arras. In Dünkirchen (Dunkerque) sind die Temperaturen von Juni bis September angenehm. Für eingefleischte Strandsegler sind Jahreszeiten weniger relevant – Hauptsache Wind!

ÜBERNACHTEN
Deûle Insolite
1015 rue de Quesnoy
59118 Wambrechies
Tel. +33 685 281 390
www.deuleinsolite.fr
Etwas ausserhalb von Lille ist der wohl einzigartigste Campingplatz ganz Frankreichs, vielleicht sogar ganz Europas zu finden. Camper, Zigeunerwagen, gar eine Jurte stehen den Gästen zur Verfügung – Frühstück inklusive.
>>>> zu meinem separaten Beitrag über Deûle Insolite

La Corne d’Or – Maison d’Hôtes
1, place Guy Mollet
Arras
Tel. +33 321 588 594
www.lamaisondhotes.com
Süsses, kleines Hotel mit fünf Zimmern. Der Besitzer stammt aus Australien und ist hier hängen geblieben.

RESTAURANTS
Meert le restaurant
27 rue Esquermoise, Lille
www.meert.fr
Wer keinen grossen Hunger hat, sollte zumindest die Gaufre (Waffeln mit Madagaskar-Vanille) probieren, die hier seit 1849 hergestellt werden.

Comme vous voulez
58 Digue de Mer, Dunkerque
www.commevousvoulez.fr
Leider gab’s gerade keine Moules & Frites, aber die Platte mit Geräuchertem und Salat war sehr gut. Abraten würde ich vom Rindstatar – meines war zäh und viel zu grob geschnitten.

La Cave des Saveurs
36 Grand’Place
Arras
www.lacavedessaveurs.fr
Wenn ich’s richtig im Kopf habe, gab’s dort leckere Carbonnade et Frites, Rindfleisch in Bier gekocht mit Pommes.

WEITERE ADRESSEN
Le Grand Huit
Velo-Treffpunkt vor dem Restaurant Corfou
1 Avenue Léon Jouhaux
Lille
Tel. +33 608 25 74
legrandhuit8@gmail.com
www.legrandhuit.eu  oder  www.lille-a-velo.com
Geführte Fahrradtour mit Jean-Baptiste durch Lille – ein Erlebnis!

Mer et Rencontres
École Française de Char à Voile (Strandsegelschule)
4, digue Nicolas II
Dunkerque
Tel. +33 3 282 913 80
www.meretrencontres.com
Unter kundiger Anleitung kann man hier das Strandsegeln lernen.
Wer erst einmal reinschnuppern oder nur zusehen möchte und in der Schweiz wohnt, kann auf der Homepage des Landsegelclubs nachschauen, wann die nächsten Termine sind: www.landsegeln.ch

La Carrière Wellington
Rue Arthur Delétoille
Arras
www.carrierewellington.com
Die 2000-jährige Geschichte der Stadt hat überall Spuren hinterlassen. Anlässlich des traurigen Jubiläums des 1. Weltkrieges, steht der Wellington-Steinbruch besonders im Zentrum. 20 Meter unter dem Strassenpflaster befindet sich dieser Ort des Gedenkens. Neuseeländische Pioniere, welche im Auftrag der Engländer die Kreidesteinbrüche der Stadt mit Tunneln verbanden, gaben diesem Steinbruch den Namen Wellington. Er erinnert heute an Tausende von Soldaten, die hier ihr Quartier hatten und am 9. April 1917 die Deutschen in einem Überraschungsangriff überrumpelten. Die Geschichte des 1. Weltkrieges wird hier sehr eindrücklich aufgearbeitet.

Musée des Beaux-Arts
22, rue Paul-Doumer
Arras
www.arras.fr

Rathaus und Glockenturm
Place des Héros
Arras
www.explorearras.com

Louvre-Lens
6, rue Paul-Bert
Lens
www.louvrelens.fr

Ch’ti Boutique und Brasserie Castelain
13, rue Pasteur
F-62410 Bénifontaine
brasseriecastelain.com

NORDFRANKREICH gedenkt des 1. Weltkrieges
Anlässlich des 100. Jubiläums zum Ersten Weltkrieg finden 2014 in Nordfrankreich zahlreiche Veranstaltungen statt. Weitere Informationen dazu unter:
www.wegedererinnerung-nordfrankreich.com

WEITERE DESTINATIONSINFOS
www.tourisme-nordpasdecalais.fr
www.lilletourism.com
www.ot-dunkerque.ft
www.explorearras.com

© Text und Fotos: Inge Jucker | TravelExperience.ch

Offenlegung: Diese Reise wurde unterstützt durch die Region Nord-Pas-de-Calais und SNCF / TGV Lyria.