Madagaskars Tier- und Pflanzenwelt ist einzigartig – im wahrsten Sinne des Wortes. Die meisten heimischen Arten kommen nirgendwo sonst auf der Welt vor.
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Hier trifft der Masoala-Regenwald auf das Meer.

Es ist feucht und heiss. Sehr heiss. Sogar der einheimische Guide Claudio wischt sich verstohlen eine Schweissperle von der Stirn. Wir sind seit zwei Stunden im Masoala-Regenwald auf der Halbinsel im Nordosten Madagaskars unterwegs auf der Suche nach dem Roten Vari, einer gefährdeten Lemurenart. Sie ist, wie etwa 95 Prozent aller Tiere Madagaskars, endemisch, kommt also nur hier vor.

Wenn Schweizer nach Madagaskar reisen, haben sie dort beruflich zu tun oder waren in der Masoala-Halle und wollen sich diesen Lebensraum in natura ansehen. Der Zoo ist also ein guter Tourismusförderer – doch in Madagaskar geht das nicht so schnell – «mora mora», nur mit der Ruhe. Um sich dem Lebensverständnis der Madagassen anzunähern, muss man erst einmal die gewohnten Massstäbe vergessen. Typisch schweizerisches Gedankengut wie Pünktlichkeit, Service oder speditives Arbeiten stellt man am besten am Flughafen in eine Ecke – man kann es auf dem Rückweg wieder abholen. Dafür lohnt es sich, die Antennen auszufahren und taktvolle Neugierde an den Tag zu legen.

Ein furchterregender Mini und ein rotes Hinterteil

Es gibt die eine oder andere Verhaltensweise, die seltsam anmuten mag. Beispielsweise darüber, dass sich erwachsene Madagassen vor Chamäleons fürchten. In ihren Augen bringt es Unheil. Es ist «fady», tabu! Solche Regeln spannen sich wie ein unsichtbares Netz über die Insel. Gut, dass Claudio die Sache mit dem Chamäleon anders sieht. Ich würde sonst nie eines zu Gesicht bekommen. Doch stolz präsentiert er auf seinem Handteller das zweitkleinste Chamäleon der Welt – gerade mal fünf Zentimeter lang. Ich bin platt! Welch ein Glück, dass Claudio den Winzling überhaupt entdeckt hat.

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Die Flussmündung bei Tampolo.

Nur mit den Varis will es heute nicht so recht klappen. Claudio blickt sorgenvoll, für ihn ist das Ziel nicht erreicht. Auf dem Rückweg strahlt er plötzlich und deutet in den Baumwipfel über uns. Ein schlafender Roter Vari! Ich muss mich anstrengen, dass ich das Tier überhaupt erkennen kann. Trotzdem bin ich begeistert: Ich habe – zumindest den Hintern – eines wild lebenden Roten Varis gesehen, einem Artgenossen jener Varis im Zoo Zürich!

Ein platter Gecko und wohnen (fast) wie Robinson

Wieder in der Masoala Forest Lodge, wartet bereits das Mittagessen und die Gäste berichten von den Sichtungen: Rotbrust-Paradiesschnäpper, Gabeldrongo, einige der tausend Orchideenarten, wilder Ingwer, riesige Baumfarne, das Mini-Chamäleon, der schlafende Vari – das Zebu im Nachbardorf und der Papageienfisch im Einbaum des Fischers zähle ich auch dazu.

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Im Nachbardorf der Lodge.

Fehlt noch ein Plattschwanzgecko, findet Bayer Nico Dóry (22), der hier eine Weiterbildung in Hotelmanagement macht, und winkt mich zu einem Baum. «In diesem Abschnitt» – Nico zeigt mit den Händen ein etwa meterlanges Stück Stamm – «ist der Gecko. Suche!» Er ist meisterhaft getarnt – nur das Glänzen seiner Äuglein verrät den Gecko, der platt am Baumstamm klebt und wie ein Stück Rinde aussieht. Fantastisch! Und das in der Lodge!

Die liegt übrigens traumhaft an einem sandigen Abschnitt der Küste und im Rücken erhebt sich der Masoala-Regenwald. Hier ist man 24 Stunden an der frischen Luft – wird mir irgendwann bewusst. Denn ich schlafe in einem grossen Zelt auf einem Holzplateau mit Palmblätterdach und Veranda. Auch im Strandhaus, wo man isst, trinkt, liest und palavert, gibt es keine Wände.

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So übernachtet man in der Masoala Forest Lodge.

Zu Besuch bei Medair, Aurélie und Lulu

Zwei Stunden Bootsfahrt von der Masoala Forest Lodge entfernt, in Maroantsetra, wohnt und arbeitet Aurélie Grisel (31). Sie kommt aus Yverdon-les-Bains und ist seit 16 Monaten für Medair (s. Box) im Einsatz. Als sie dreissig geworden ist, hat sie beschlossen, nun etwas Sinnvolles machen zu wollen. Und so ist sie hier gelandet und bringt den Menschen in 89 Dörfern – mit Hilfe ihres madagassischen Teams – ein gesundes Verhalten bei, beispielsweise den Kindern, sich die Hände mit Seife zu waschen. Man muss der Bevölkerung auch klar machen, wie ungesund es ist, Wasser aus dem Fluss zu trinken. Der wird nämlich auch als Toilette und zum Waschen benutzt. In einem nächsten Projekt gilt es, mit den Leuten Latrinen zu bauen.

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Aurélie Grisel von Medair mit Bambuslemur Lulu auf dem Arm.

«Am Anfang waren die Wochenenden für mich sehr langweilig», erzählt Aurélie, «aber mit der Zeit habe ich Freunde gefunden.» Malagasy, die madagassische Sprache zu lernen, ist natürlich ein Muss. Aber: «Die Aussprache ist regional unterschiedlich und entspricht nicht dem geschriebenen Wort. Das ist schon etwas problematisch.» Einfacher ist dafür die Verständigung mit den vierbeinigen Inselbewohnern: In Nachbars Garten ruft Aurélie nach Lulu, dem zahmen Bambuslemur. Das Kerlchen klettert sofort an ihr hoch – zwei, die sich verstehen…

Keine Adresse, viele Projekte und Heimatgefühle

Eine weitere Schweizerin besuche ich in Antananarivo, der Hauptstadt Madagaskars. Mir ist völlig unbegreiflich, weshalb es in dieser Millionenstadt keine Adressen wie bei uns gibt! Nur wenige grosse Strassen haben überhaupt einen Namen, bei allen anderen behilft man sich mit der Angabe des Quartiers oder der Beschreibung des Hauses. Mit Hilfe eines Taxifahrers finde ich schliesslich das WWF-Büro, wo mir die in Winterthur aufgewachsene Martina Lippuner (33) ihre Tätigkeit erklärt. Der WWF Madagaskar erreicht in 700 Jugendumweltclubs etwa 50 000 Jugendliche. Sie haben gelernt, wie man Bäume pflanzt und man spricht über landwirtschaftliche Methoden und Probleme. Lösungen werden wohl gemeinsam erarbeitet, doch am Ende entscheiden die Leute immer selber. Der WWF bietet lediglich Rat und technische Hilfe an. «Wichtig ist, dass die Madagassen von zerstörerischen Praktiken wie Brandroden selber weg wollen – nur das bringt Erfolg», erklärt Martina.

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WWF-Mitarbeiterin Martina Lippuner in ihrem Büro in Antananarivo.

Sie hat sich vor drei Jahren – nach einem dreimonatigen Studienaufenthalt in Madagaskar – beim WWF beworben und leitet jetzt ein kleines Team sowie die internationale Kommunikation. Wie findet man sich als Frau hier zurecht? «Eigentlich ganz gut. Man gewöhnt sich an vieles, an chaotische Busfahrpläne, an unlogische Routen…, man muss halt die richtige Lebenseinstellung mitbringen.» Inzwischen hat Martina festgestellt: «Heimatgefühle kannte ich früher nicht, aber wenn ich jetzt ein Bild von der Schweiz sehe, dann vermisse ich meine Heimat schon.»

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Ein Gemüsemarkt in Antananarivo.

Doch kaum hält sich Martina ferienhalber in der Schweiz auf, vermisst sich auch schon wieder ihre Freunde in Antananarivo, die Sonne und die Lebensart. Mittlerweile kann ich das gut verstehen, denn schon kurz nach meiner Rückkehr, hätte ich mich am liebsten gleich wieder auf die weitere Entdeckung dieses magischen Madagaskars gemacht. Es scheint tatsächlich eine Art «Madagaskar-Virus» zu geben…

© Text & Fotos: Inge Jucker | TravelExperience.ch

Offenlegung: Diese Reise wurde unterstützt durch Legends Travel und Amporaha Resort.

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