
Als wir im Kloster Disentis eintreffen, sind wir froh, dem Regen entfliehen zu können und werden von Bruder Martin herzlich begrüsst. Zusammen mit ihm und seinen Mitmönchen tauchen wir die nächsten 24 Stunden ins Klosterleben ein – zumindest in jenen Bereichen, welche den Hausgästen und der Öffentlichkeit zugänglich sind. Und wir beschäftigen uns mit ungefähr 1400 Jahren Klostergeschichte. Auch wenn dank der Renovationen während der letzten Jahren heute alles picobello ausschaut, wandelt man doch da und dort über die frühmittelalterlichen Anfänge des Klosters.

Inhalt
Spaziergang durch die Jahrhunderte
Pater Theo, der im Kloster Disentis für Führungen zuständig ist, zeigt uns mit feinem Humor und grossem Wissen das wichtigste Männerkloster Graubündens, das auch weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist. Es zählt zu den ältesten Benediktinerklöstern nördlich der Alpen. Der Geschichtsschreibung nach soll der Wandermönch Sigisbert sich in der «Desertina», der Einöde am Lukmanier, niedergelassen und zusammen mit dem Einheimischen Placidus eine Einsiedelei gegründet haben. Placidus wurde umgebracht, Sigisbert starb hingegen eines natürlichen Todes. Über den Gräbern der beiden entstand schliesslich das Kloster Disentis, das von Bischof Ursicin von Chur um 750 gegründet wurde.

Vom Pfortengang aus bringt uns ein kleiner «Umweg» zu diesen Ursprüngen des Klosters. Durch ein schmales Fenster erhaschen wir einen Blick auf mittelalterliches rundes Gemäuer, das zur ersten Martinskirche gehört hat. Ausgrabungen haben gezeigt, dass sich darunter gar Reste einer Eisenzeitsiedlung befinden. Die frühe Besiedelung erklärt sich durch die Tatsache, dass sich Disentis am wichtigen Handelsweg am Lukmanierpass befindet.

Über einen Gang gelangen wir zur Placi-Krypta, in der die Reliquien der beiden Klostergründer Sigisbert und Placidus aufbewahrt werden. Zudem gibt hier eine grosse Glasscheibe den Blick auf ein grösseres Wandstück mit einem kleinen Fenster frei. Dieses einzige Fenster des Rundbaus liess exakt jeweils am 11. Juli, dem Fest des heiligen Plazidus, am längsten Licht ins Innere des Gebäudes fallen.
Unruhige Zeiten
Nach der Klostergründung folgt ein Auf und Ab durch die Jahrhunderte, in denen das Kloster mehrmals abbrennt und wieder aufgebaut wird. Es bleibt aber fast immer von Benediktinermönchen bewohnt. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts sind die Gebäude in einem derart desolaten Zustand, dass man sich für einen Neubau entscheidet. 1685 wird nach den Plänen des Mönchs Caspar Moosbrugger aus Einsiedeln der Bau der Anlage im Stil des Vorarlberger Barocks in Angriff genommen, und 1712 kann die Kirche eingeweiht werden. Die Blütezeit ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn französische Truppen stecken 1799 das Dorf Disentis und das Kloster in Brand. Dabei werden auch die Reliquienschreine mit den Gebeinen der Gründer weitgehend zerstört. Heute gibt es nur noch drei Fragmente von Placidus und Sigisbert.

Aufwärts geht es erst wieder ab 1880 mit dem Bau der neuen Marienkirche und dem Gymnasium. Das Kloster Disentis wird zum geistlichen und kulturellen Zentrum der Surselva und erlebt mehrmals bedeutende Renovationen und Erweiterungen.


Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist es aber wieder soweit: Risse in den Fassaden der Martinskirche und andere Schäden verlangen nach einer Gesamtrenovation. Doch es harzt. Finanzieller Art. 2014 wird schliesslich eine Fundraising-Kampagne ins Leben gerufen, um die notwendigen Renovationen finanzieren zu können. In nur zwei Jahren sind 11,8 Millionen Franken zusammengekommen und im Frühling 2016 beginnen die Arbeiten an der Südfassade der Martinskirche, 2018 jene im Innenbereich. Am 11. November 2019 wird die Martinskirche wiedereröffnet.
Die Mönche gehen mit der Zeit
Die Welt bleibt nicht stehen, auch im Kloster Disentis nicht. Nach einem Brand bekommt der Bauernhof des Klosters 2009 einen Freilaufstall für Hornkühe, welche von einem Steg aus von den Besuchern beobachtet werden können. Zum Klosterhof kommt wenig später eine Sennaria, in der die Milch der Hornkühe zu Bergkäse verarbeitet wird.

Schliesslich werden im Kloster noch die Cafeteria «Stiva Sogn Placi» sowie Gästezimmer und Seminarräume eingerichtet. Im Peter Kaiser-Saal können gar Bankette bis 220 Personen abgehalten werden. Alles in allem erschaffen sich die Mönche eine Einnahmequelle, ohne dass die Klausur, das Klosterleben, zu sehr gestört wird. Ora et labora – bete und arbeite – eine der Benediktinerregeln lässt sich so gut einhalten.

Die Mönche sorgen sogar dafür, dass zwei Apps realisiert werden. Die eine zeigt den täglichen Abschnitt aus der Regula-Benedicti, der aus dem Mittelalter stammenden Benediktinerregel, ergänzt mit einer Betrachtung aus heutiger Sicht. Die Mönche nehmen sich jeden Tag Zeit für die Meditation der Bibel und das Lesen geistlicher Schriften. Die Hora Benedicti ist als Einladung für interessierte Leser zu verstehen. Die zweite App erklärt die Geschichte, Architektur und die aktuellen Restaurierungen der Klosterkirche in Text, Film und Ton.

Ein Tag im Kloster Disentis
Wir haben im Kloster eingecheckt und bringen rasch unser Gepäck aufs Zimmer, um gleich wieder in die Klosterkirche zu eilen, wo sich die Mönche vor dem Mittagessen zur Mittagshore um 11:45 Uhr treffen. Das Psalmgebet wird im Wechsel gesungen. Danach gehen die Mönche schweigend ins Refektorium. Nach einem Dankesgebet setzen sie sich an ihren Platz. Ein zum Lektor bestimmter Mönch liest aus der Bibel, daraufhin wird das Essen in Töpfen serviert, aus denen jeder selber schöpft. Derweil treffen wir in der Cafeteria Bruder Martin, der mit uns zu Mittag isst. Unsere Töpfe kommen aus der Klosterküche und sind mit den gleichen Speisen gefüllt, wie sie die Mönche essen. Bruder Martin spricht ein Dankesgebet bevor wir zu tafeln beginnen.

Um 18 Uhr treffen sich die Mönche wieder in der Klosterkirche zur Vesper und singen vier Psalmen. Gäste sind auch hier willkommen. Der Lobgesang der Maria beschliesst das Stundengebet und die Mönche begeben sich zum Abendessen ins Refektorium. Um 20 Uhr treffen sie sich zum Komplet, dem letzten gemeinsamen Gebet des Tages, danach ziehen sie sich in ihre Zellen zurück – oder treffen sich im Fernsehzimmer. Apropos TV: In den Gästezimmern gibt es keine TV-Geräte, damit sich die Gäste auf sich und ihren Aufenthalt im Kloster konzentrieren können.

Der nächste Tag beginnt für die Mönche bereits um 5.30 Uhr. Das erste Stundengebet des Tages besteht aus zwei Teilen, der Vigil und den Laudes und dauert eine Stunde. Frühaufstehende Gäste sind auch hier eingeladen den Psalmen zu lauschen. Ganz ehrlich: Wir haben es nicht rechtzeitig aus den Federn geschafft…
Um 7.30 Uhr treffen sich die Mönche erneut, diesmal zur Konventmesse in der Marienkirche. Die Priester unter den Mönchen zelebrieren die Messe im Altarraum. Danach gehen alle Mönche ihren Tätigkeiten nach, sei es als Teilzeitlehrer in der Klosterschule oder im Klosterbetrieb beispielsweise in der Küche, der Verwaltung, Buchhaltung oder Gästebetreuung. Derzeit leben 19 Mönche im Kloster Disentis, gelegentlich auch einige Männer, die nur auf Zeit hier sind.

Kräuter- und Museumsschatz
Ein recht junger Bruder zeigt uns sein Reich, den Kräutergarten. Weil es so regnet, dürfen wir ihn von einem der Schulzimmer aus anschauen. Was im Garten an Kräutern und Blumen angebaut und gesammelt wird, kommt in einen speziellen Raum, der mit Trocknungsgestellen bis fast unter die Decke gefüllt ist. Aus den getrockneten Pflanzen entstehen herrliche Teemischungen.



Unbedingt einen Besuch wert ist auch das Klostermuseum. Es ist eine wahre Schatzkammer. Im ehemaligen Kapitelsaal werden sakrale Kunstwerke, Gewänder und Statuen, die um 1200 entstanden sind. In einem weiteren Raum dreht sich alles um die Geschichte des Benediktinerklosters. Derzeit ist eine Ausstellung dem Thema «Opferkässeli aus 600 Jahren» gewidmet. Eine ständige Ausstellung befasst sich mit Flora und Fauna der Surselva.



Die Grosse Orgel sorgt für grosses Staunen
Ein besonderes Highlight beschert uns schliesslich Bruder Stefan mit seiner Orgelführung. Er empfängt uns in seinem «Cockpit», will heissen: am Spieltisch der Grossen Orgel über dem Haupteingang der Martinskirche. Die Geschichte der Klosterorgeln beginnt um das Jahr 720 mit einer kleinen Begleitorgel. In einem Büchlein, von Pater Urban Affentranger und Bruder Stefan Keusch verfasst, ist alles detailliert festgehalten.

Hier etwas Orgel-Zahlenakrobatik für Orgel-Fans: Heute hat die Martinskirche zwei Orgeln, nämlich die Chororgel rechts vor dem Chor und die besagte Grosse Orgel. Sie wurde 1934 von der Orgelfirma Franz Gattringer gebaut, welche die neun Register der vorhergehenden Klingler-Orgel von 1893 integrierte. In zwei Schritten werden weitere Register eingebaut. 2019/2020 restauriert Orgelbau Kuhn aus Männedorf die Orgel umfassend. Dabei wird sie erneut erweitert und – mit Computer ausgestattet. Während die Orgel 1960 noch über 64 klingende Register mit 4119 Pfeifen verfügte, sind es heute 65 klingende Register mit 4173 Pfeifen.

Also echt: So eine Orgel ist eine Wissenschaft für sich! Wir staunen über die Länge der am tiefsten klingenden Holzpfeife und die Winzigkeit der kleinsten Pfeifen, die im Orgelprospekt, der sichtbaren «Pfeifenfassade», versteckt sind. Aber vor allem bewundern wir die Fuss- und Fingerfertigkeit von Bruder Stefan, als er für uns ein Privatkonzert gibt! Einfach der Hammer! Sorry, das kann ich anders nicht passender ausdrücken…





Verblüffende Architektur der Martinskirche
Von der Orgelempore aus erkenne ich drei «Spezialitäten» der Martinskirche besonders gut: Ihre Helligkeit, ihre Grösse und die Raumaufgliederung. Hell ist sie aus zwei Gründen: Die Nordausrichtung sorgt für ausgedehnte Einstrahlung der Sonne, und die Fenster sind weder bemalt noch aus buntem Glas gefertigt.

Die Grösse der Kirche wird durch einen optischen «Trick» in der Raumgestaltung verstärkt: Die Breite des Hauptschiffes verjüngt sich gegen den Hochaltar hin, womit mehr Tiefe entsteht. Massive Säulen markieren den Übergang vom Hauptschiff zu den Abseiten und die Empore umläuft den gesamten, reich geschmückten Raum. Von aussen ist von alle dem nichts zu erahnen. Die Kirche ist schlicht und rechteckig. Am auffälligsten sind die beiden Zwiebeltürme und das Maria-Schutzmantel-Bild an der Südfassade.



Je mehr ich mich mit der Martinskirche und der Klosteranlage beschäftige, desto beeindruckender wirkt das alles. Was mich aber am meisten freut, ist die Möglichkeit, im Kloster Disentis übernachten zu können. Wenn die Tagesgäste das Kloster verlassen, wird es beinahe andächtig ruhig. Das Klostermuseum und die Stiva St. Placi schliessen um 17 Uhr. Nach dem Stundengebet um 18 Uhr, dem Abendessen und dem Komplet um 20 Uhr, fallen wir in unserem Zimmer schon bald in tiefen Schlaf. Es ist jetzt schon klar, dass wir nicht zum letzten Mal im Kloster Disentis übernachtet und die besinnliche Ruhe genossen haben.



Infos zum Kloster Disentis
ANREISE
Mit der Rhätischen Bahn ab Chur oder dem eigenen Auto. Parkplätze sind vorhanden.
ADRESSE
Kloster Disentis
Via Claustra 1, CH-7180 Disentis/Mustér
www.kloster-disentis.ch
HOTEL
Hotelbetrieb im Kloster Disentis
Via Claustra 1, CH-7180 Disentis/Mustér
www.kloster-hotel.ch
Die Übernachtung mit Frühstück kostet pro Nacht und Person 80 Franken im Doppelzimmer, in Einzelbenützung des DZ 130 Franken.
Für Gruppen wird das Abendessen im Kloster serviert, Einzelpersonen verpflegen sich abends in den Restaurants von Disentis.
WICHTIGE ZEITEN IM KLOSTER DISENTIS
05:30 Uhr Vigil und Laudes
07:30 Uhr Konventmesse
11:45 Uhr Mittagshore
18:00 Uhr Vesper
20:00 Uhr Komplet
KLOSTERMUSEUM
Das Museum im Kloster Disentis zeigt ständige und Wechselausstellungen und ist von Montag bis Samstag jeweils von 10 bis 17 Uhr geöffnet, am Sonntag von 14 bis 17 Uhr.
RESTAURANT
Die Kloster-Cafeteria Stiva St. Placi ist täglich von 8 bis 17 Uhr geöffnet, das Mittagsmenü wird jeweils von 12 bis 14 Uhr serviert.
Was andere Blogger übers Kloster Disentis berichten
Wir waren ja auf Einladung von Klösterreich zusammen mit Elena von creativelena.com und mit Christina von CitySeaCountry.com im Kloster Disentis. Was die beiden über unser gemeinsames Erlebnis berichten, findest Du unter folgenden Links:
- Zu «Gast im Kloster»: Auf Tuchfühlung mit 1400 Jahren Geschichte im Kloster Disentis in der Schweiz.
- Übernachten im Kloster: Auszeit im Kloster Disentis in der Schweiz
Der Verein Klösterreich
Klöster zählen zu den ältesten Gaststätten und Herbergen in Europa. Und deshalb gibt es Klösterreich, den Verein zur Förderung der kulturellen und touristischen Aktivitäten der Klöster, Orden und Stifte Österreichs. Dazu zählen mittlerweile aber auch Klöster und Stifte aus Deutschland, Ungarn, der Tschechischen Republik und der Schweiz. Disentis ist das erste und bislang einzige Schweizer Vereinsmitglied. www.kloesterreich.at
Noch ein Tipp für Kloster-Fans
Jens vom Blog OverlandTour hat das Kloster Eberbach bei Eltville am Rhein besucht. In seinem Beitrag Genuss und Wein im Rheingau erfährst Du von seinen Klostererlebnissen.
© Text: Inge Jucker; Fotos: Heinz Jucker | TravelExperience.ch | 2020
Offenlegung: Wir waren von Klösterreich und dem Kloster Disentis zu diesem 24-Stunden-Aufenthalt samt Führungen eingeladen. Die Anreise erfolgte auf eigene Kosten.
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