
Kühe, Dalmatiner, Raubkatzen – das halbe Tierreich versammelt sich auf der Piazza Collegiata. Und die Fabelwelt ist mit Elfen, Drachen und Kobolden ebenfalls gut vertreten. Die Fasnacht, in Bellinzona heisst sie Rabadan, befindet sich am Abend des Schmutzigen Donnerstags in den Startlöchern. Auf der Bühne vor der Kirche Collegiata dei Santi Pietro i Stefano sind die Protagonisten gerade dabei, die Schlüsselübergabe zu inszenieren. Dabei wird nicht an witzigen Reden und musikalischen wie optischen Effekten gespart.

Inhalt
Schlüsselübergabe
Die Stimmung auf der Piazza ist entsprechend aufgekratzt und erwartungsvoll, versprüht aber auch eine ungewohnte Einigkeit. Natürlich ist es von Vorteil, wenn man die italienische Sprache beherrscht, doch auch dann erschliesst sich dem Zuhörer nicht immer der feine Witz, den Einheimische selbstverständlich gut zu deuten wissen. Der stetige Wechsel zwischen Italienisch und Dialekt erschwert das Verstehen zusätzlich. Dennoch: Irgendwann singen alle auf der Piazza Versammelten zur Melodie von «YMCA» einen Dialekttext – egal, ob man versteht oder nicht was die grosse Leinwand karaokeartig vorgibt. Eine Riesengaudi!

Und dann jagt ein Höhepunkt den nächsten. Unter Gejohle, Getröte und Applaus seitens des Publikums übergibt der Stadtpräsident den symbolischen Schlüssel zu den Stadttoren an König Rabadan. Die Piazza bebt, denn ab sofort steht Bellinzona fünf Tage lang Kopf. Und das wird mit einem Feuerwerk und einem gespendeten Apéro schon mal kräftig gefeiert. Die Fasnächtler ziehen noch weit nach Mitternacht fröhlich durch die Altstadt. Nachts ist während des Rabadans alles möglich – ausser schlafen.
Bellinzona ist eine einzige Festhütte
Am Freitagmittag wärmt die Februarsonne das kunterbunte Treiben. Für den Kinderumzug kommen die Kids schon Stunden bevor es los geht am Bahnhof an. Man fotografiert sich gegenseitig, Ausgelassenheit regiert und Spass muss einfach sein. Engelchen, Teufelchen, Pluto – und ein Mädchen im Rollstuhl wird von Freunden durch den Fasnachtstumult geschoben… Es ist mehr ein Kommen denn ein Gehen. Das Postauto aus Biasca erreicht proppenvoll den Bahnhof – etwa die Hälfte der Fahrgäste ist kostümiert. Liebevoll genähte Kostüme aus Plüsch – der hält schön warm –, aber auch luftige, pastellfarbene Schmetterlinge aus Tüll und Glitzer entsteigen dem Fahrzeug und spazieren Richtung Altstadt.

Einige Deutschschweizer sind zwar auszumachen, doch man kann nicht behaupten, dass der Norden den Rabadan für sich entdeckt hätte. Dabei handelt es sich nach Basel um die zweitgrösste Fasnacht der Schweiz! So verkündet es Bellinzona Tourismo. Und Neugierige erfahren von der Fasnachtsgesellschaft, woher die Bezeichnung Rabadan eigentlich stammt. Sie ist ein Ausdruck des Piemonteser Dialekts und hat eine doppelte Bedeutung: Getöse, Lärm, Rambazamba lautet die eine und gut nachvollziehbare Erklärung.
Die andere geht zurück auf die Kreuzzüge, als die Piemontesen in die arabischen Länder auszogen. Dort sahen sie, dass die Moslems während des Ramadans tagsüber fasteten und beteten, aber nachts Gesängen, Gelagen und mehr frönten. Die Piemontesen haben nur den nächtlichen Part in Erinnerung behalten und zu Hause die Zeit vor dem Fasten als Rabadan bezeichnet. 2015 wird er in Bellinzona vom 12. bis 17. Februar gefeiert – jeweils bis in alle Nacht. Zu dieser Zeit gleicht Bellinzona einer einzigen riesigen Festhütte.
Rambazamba samt Sightseeing
Die Gesellschaft Rabadan ist eine grosse Organisation mit komplexer Struktur, die sich stets weiter entwickelt und dem Zeitgeschmack anpasst. Während der letzten zwanzig Jahre hat sich das Fasnachtsterritorium stark erweitert und in die Strassen und Plätze des Zentrums ausgedehnt. Auf jedem noch so kleinen Platz steht ein Festzelt.
Als Eintrittsticket kauft man an den Eingangstoren einen Pin, eine «tessera Rabadan», welche für alle Veranstaltungen an den Fasnachtstagen gültig ist. Auch eine Sicherheitskontrolle muss man bei diesen Toren, die einer Strassensperre entsprechen, über sich ergehen lassen. Eine gute Idee ist es, sich bereits vor Inbetriebnahme der Eingänge in der Altstadt aufzuhalten. Man entgeht so dem Schlangestehen.

In Bellinzona gibt es ohnehin genug zu entdecken. Beispielsweise das Einkaufszentrum «Piazza Grande». Es ist beinahe nicht als solches zu erkennen, denn von aussen sieht es wie ein reich geschmückter Palazzo aus: Galileo, Tasso und Dante grüssen als Büsten von der Fassade – während unten der Kinderumzug vorbei zieht. Eine Augenweide ist der Palazzo Civico mit seinen Arkaden und Gemälden im ruhigen Innenhof.
Wer vom Fasnachtsrummel eine Pause machen will, der nimmt am besten den Weg aufs Castelgrande unter die Füsse. Müde Fasnächtler können auch mit dem Lift hinauf fahren. Auf der Burg weht meistens ein frischer Wind und die Aussicht ist beeindruckend. Ein Muss, das sich auch als Mitbringsel gut eignet, sind die «Tortelli di Rabadan», auch «Tortellini di Carnevale» genannt. Dabei handelt es sich um eine Art Mini-Windbeutel, die mit Vanillecreme gefüllt sind, die in den meisten Konditoreien angeboten werden.

Gestärkt geht es wieder ins Fasnachtstreiben. Am Freitagnachmittag findet der Maskenumzug der Schulkinder statt, tags darauf wetteifern lautstark die Guggenmusiken auf der Piazza Collegiata. Am Sonntag, zum grossen Umzug, ist dann auch das Tessiner Fernsehen dabei und überträgt live, während am Montag wieder die Kinder im Mittelpunkt stehen.
Traditionellerweise wird am Dienstag Risotto kostenlos an etwa 3000 Leute verteilt. Früher spendeten es die Reichen den Armen, auch dies ein Zeichen dafür, dass während des Rabadans eine verkehrte Welt herrscht, denn schon damals verschenkten die Wohlhabenden kaum etwas.
Wohl genährt begibt man sich also in die Fastenzeit – oder in den nächsten Fasnachtsrummel. Denn der endet nur nach römischem Ritus an Aschermittwoch. In den «ambrosianischen Tälern» (Leventina, Bleniotal, Biasca, Tesserete und Brissago) geht es just an diesem Tag erst los. Für dieses Narrentreiben lohnt es sich also durchaus, im Winter ins Tessin zu reisen.
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